Die ersten Schritte in Bischkek

30. Mai 2021 | Bischkek, Kirgistan | Lisa

Bäume, Berge, Brutalismus – ich denke, damit ist die Hauptstadt Kirgistans ganz gut beschrieben. Die Planstadt ist eine der grünsten Hauptstädte, die ich je besucht habe und fasziniert mit einer unglaublichen Vielfalt: Hier trifft orientalisches Basar-Feeling auf den Charme verfallendender Sowejt-Prunkbauten, chinesische Nudeln auf Blini, Asia-mäßiges Verkehrschaos auf breit angelegte, grüne Alleen und Parks. Alles in allem ein Ort, an dem es sich lohnt, einige Tage zu verbringen.

Das kirgisische Nähe-Distanz-Paradox

Der Flieger, den wir in Antalya besteigen, ist eigentlich gar nicht so voll, aber da Kirgisen offenbar ein völlig anderes Emopfingen für Nähe und Abstand haben, stehen wir ständig in einer dicht gedrängten Menschentraube. Alles fühlt sich irgendwie wuselig an und wird im Flieger noch viel aufgeregter, denn hier fällt mir erst auf, wie viele Leute mit Kleinkindern fliegen, die im Flieger natürlich alle ausrasten. Gut, dass wir die Doppelkopfhörer dabei haben und uns so nach einem dezenten Umsetzen elegant aus der Welt ausklinken können. Die junge Kirgisin mit Baby ist auch sichtlich froh, dass sie ihr Kind nicht den kompletten fFlug über auf dem Schoß transportieren muss. Auch wir sind froh über etwas abstand, denn von Masken hält hier im Flieger kaum jemand etwas, sodass die gefühlt ohnehin gestresste Crew der Billigairlines Pegasus gar nicht hinterherkommt, mit den Aufforderungen zum Maske tragen.

Solange noch Licht ist, staunen wir immer kargere, immer verlassenere Landschaft der Zentral- und Osttürkei. Oguz hatte Recht, da gibt es wirklich nichts. Der aufgehende Fast-Vollmond sorgt für mystische Anblicke, zumindest für Söri, denn Lischen versucht zu schlafen. Endlich im Landeanflug auf Bischkek sorgt der Mond zudem für einen faszinierenden Effekt: Seine Spiegelung im Al-Archa-Fluss in Kombination mit der Bewegung unseres Flugzeugs lässt den Strom wie eine pulsierende Lebensader schimmern. Wow! Während dieser Anblick die Kirgisen an Bord (wir sind glaube ich, die einzigen Ausländer) kalt lässt, sorgt die erfolgreiche Landung für frenetisches Klatschen. Nun ja. Da geht die Aussage, dass man doch bitte ganz geordnet und Reihe für Reihe aufstehen und aussteigen soll, wohl offenbar leider unter. Sobald das Anschnallzeichen erlischt, wuselt alles gleichzeitig durcheinander und scheint dem physikalischen Naturgesetzt „wo ein Körper ist, kann kein zweiter sein“, widersprechen zu wollen.

Wir schaffen es dank Reihe fünf dennoch zackig aus dem Flieger und auch PCR- und Pass-Kontrolle (letztere bei Grenzbeamten mit sehr großen Mützen) sind erstaunlich schnell erledigt, sodass wir tatsächlich vor unserem Gepäck am Band stehen und unseren Augen kaum trauen, als wir den Stand des hiesigen Telefonanbieters sehen: MEGACOM! Wenn das kein Zeichen ist! 3 Uhr Ortszeit ist für solche Entscheidungen dennoch zu früh (bzw. Zu spät), sodass wir den Kauf auf später verlegen und im öffentlichen Bereich direkt von diversen Taxifahrern umringt und angesprochen werden. Wir halten Ausschau nach einem Schild mit Namen (wie aufregend, sowas hatte ich noch nie), finden aber erstmal noch nichts, sodass wir zunächst unsere ersten Kirgischen Som vom Geldautomaten holen.

Die Oase im hupenden Chaos

An der Schiebetür nach draußen wird’s dann richtig aufregend. Hier drängen sich trotz später Stunde bestimmt 20 Taxifahrer in der Hoffnung auf einen lukrative Fahrt in die Stadt. Doch da steht tatsächlich ein Mann mit Lisa Möckel auf einem Schild – Geilo! Unser Fahrer spricht Top-Englisch und wir fallen fast um, als wir unser „Taxi“ sehen – einen Audi Q7. „More Comfort“, lautet seine schlichte Antwort auf unsere erstaunten Blicke. Auf der Fahrt erkundigen wir uns nach der Goldenen Regel des kirgisischen Straßenverkehrs, schließlich wollen wir in einer Woche selbst mit dem Auto los. „There is only one Rule in Kyrgyz traffic: there are no rules. Drive carefully!“

Mit vielen Informationen und Eindrücken erreichen wir unser Hotel/Hostel und werden von einem schläfrigen Nachtportier begrüßt mit der Nachricht, dass es etwas mit dem Zimmer nicht geklappt hat: wir müssen bis 9 Uhr im Hostel in getrennten Gemeinschaftsräumen schlafen. Nicht unbedingt unser Traum in Zeiten von Corona, aber was bleibt uns um 4 Uhr morgens anderes übrig? (Erst am nächsten Morgen sehen wir, dass es draußen im Garten auch sehr schöne Hängematten gegeben hätte.) So schleichen wir uns voll des schlechten Gewissens und so leise wie möglich in den Girls‘ und Boys‘ Room, ziehen die Vorhänge zu unseren Kojen zu und lauschen dem im Morgengrauen beginnenden Vogelkonzert von draußen und dem Schnarchsolisten aus dem Boys‘ Room.

Reichlich gerädert nehme ich wenige Stunden später unser Zimmer in Beschlag – ein echter Ballsaal mit Holzparkett, traditionellen und modernen Elementen. Unten im Garten treffe ich Söri und wir chillern uns erstmal in die Hängematten dieser sehr gemütlichen Oase, in der es verschiedenste Sitz- und Liegegelegenheiten sowie ein mit reichlich Kissen ausgepolstertes Sitzpodest mit Tisch und Baldachin und eine Außenküche gibt. Jepp, hier lässt es sich aushalten. Nach kleinem Frühstück marschieren wir los. Tagesaufgabe: Orientierung und SIM-Karte.

Erste Orientierung

Wir bestaunen die breiten, wie mit dem Lineal gezogenen Straßen dieser Eine-Million-Einwohner-Stadt kaufen unseren ersten Kwas (Yummi, eisgekühlt!) und werden bei dessen Genuss von zwei jungen Kirgisen neugierig gefragt: „Fkusna?“ Ich muss kurz in meiner Duolingo-Russisch-Ecke im Hirn kramen und finde zwischen Sätzen wie „Pferde trinken keine Milch“ und „Da ist Blut auf dem Ticket“ endlich auch das Wort: Lecker. „Da, Otschen Fkusna! Sehr lecker.“ Yes, es hat tatsächlich etwas gebracht, denke ich, als wir weitergehen – beeindruckt vom maroden Charme verfallender Sowjetbauten, dem vielen Grün und den schwarzen Rauchsäulen, die die Geländewagen und Kleinbusse so ausstoßen. Vermutlich ist der Baumbestand hier zwingende Notwendigkeit, um letzteres zumindest in minimalem Umfang zu kompensieren.

Neben uns sind wieder die beiden Kirgisen, die jetzt ein Gespräch mit uns anfangen wollen – nahezu ohne Russisch auf unserer oder Englisch auf deren Seite, ist das allerdings nur mit Google Translate möglich. Die beiden wollen „uns näher kennenlernen“ und ein Stück mit uns gehen. Kommt mir komisch vor, aber ich bin so schlecht im Nein-sagen und Söri findet es okay. Die beiden seien an der juristischen Fakultät und Beamte. Als ich mich (mein Stolz als sprachaffiner Mensch verbietet mir die völlige Abhängigkeit von einem kleinen viereckigen Gerät zur Kommunikation) mit zwei Bröckchen und Zeichensprache erkundigen will, welche Fachrichtung sie denn studieren, kommt jedoch offenbar etwas sehr komisches bei ihnen an, denn sie tippen schockiert: „Nein, wir wollen euch nicht töten und dann ausrauben.“ Dabei meinte ich, ob sie zum Beispiel Strafverteidiger werden, oder sich eher um Betrug und ähnliches, was mit Geld zu tun hat, kümmern. Nun ja, Zeichensprache vier minus, setzen.

Wir kommen an ein paar Sehenswürdigkeiten vorbei (dazu weiter unten mehr), doch das mit dem Informationsaustausch bleibt nach meinem Faux-Pas Google Translate vorbehalten, was recht zäh und unlebendig ist. Wir gehen in eine relativ große, moderne Mall, um unsere SIM-Karte zu holen. Hier glänzt, blinkt und blitzt alles, gefühlt spürt man hier in besonderem Maß die Nähe zu China. Auch hier kommen unsere beiden Kirgisen mit und wollen als Übersetzer fungieren, was ja total lieb gemeint, aber eigentlich unpraktisch ist, da wir ja eh keine gemeinsame Sprache sprechen. Nach der SIM-Aktivierung kommen wir dann zum Kern der Sache (ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wann wir zum Business-Teil dieser Beziehung kommen): Als wir uns mit der Einladung zu einem letzten gemeinsamen Getränk freundlich verabschieden wollen, bieten die beiden an, wir könnten zu typisch kirgisischen Reiterspielen hier in Bischkek fahren, oder ob wir nicht anderweitig eine Tour mit ihnen machen wollten. Da wir ab nächster Woche bereits ein Auto haben, lehnen wir dankend ab – nur um daraufhin ihre Übersetzungsdienste angeboten zu bekommen. Die kennen wir ja jetzt schon und verzichten ebenfalls dankend.

Abenteuer Supermarkt

So jeder Geschäftsgrundlage entzogen trennen sich unsere Wege und wir begeben uns ins nächste Abenteuer: den ersten Supermarkt-Besuch. Ich liebe das ja und werde direkt fündig im Zahnpastaregal. Einmal Sauna für die tägliche Mundhygiene gefällig? Auf geht’s! (Söri ist skeptisch, aber ein erster Zungenspitzentest wenig später zeigt, dass es eine großartige Entscheidung war.) Wir finden außerdem Gewürze und Trockennahrung wie Reis, Bohnen, Linsen, Buchweizen, Salz und Zucker zum Selbstabfüllen, die Gelegenheit, unsere geschröpften Zuckervorräte aufzustocken ohne gleich ein Kilo kaufen zu müssen. Fürs Abendbrot holen wir Buchweizen, denn sogenanntes Gretschka hatten wir bei unseren russischen und ukrainischen Wegbegleitern auf dem Lykischen Weg mehrfach probieren dürfen. Dann geht die Experimentierfreude mit mir durch und ich hole mir eine Literflasche irgendwas ohne zu übersetzen. (Schon der erste Schluck ist furchtbar, nach dem zweiten Versuch dieses säuerlichen, stückigen Gebräus gebe ich auf und entsorge den Rest – Sorry!) Nächstes Staunen am Vodkaregal: nach zwei Monaten in der Türkei sind wir gleichermaßen von Menge und Preis geschock-fasziniert. Hier sind allein die nationalen Vodkas auf schätzungsweise drei Regalmetern Breite aufgestellt (ein nochmal so breites Regal folgt für die internationalen Kartoffeldestillate), die teuerste Literflasche in der einheimischen Ecke beläuft sich auf – wir trauen unseren Augen kaum – 4.800 Som, also etwa vier Euro achtzig. Wir entscheiden uns für eine kleine Flasche im mittleren Preissegment (Etikettenkauf) und werden es nicht bereuen. Das Stadtbild auf unserem Heimweg zum Hostel ist ein interessanter Mix aus vereinzelten, westlich geprägten Immobilien- und Luxusgüterwerbungen, schnurgeraden Straßen, immer wieder breiten Grünstreifen und Alleen und dazwischen langsam vor sich hinbröckelnden Sowjet-Wohnblöcken.

Verlorengehen im Osch-Basar

Gleich um die Ecke unseres Hostels befindet sich der Osch-Basar, wo man von getrocknetem Obst über Gewürze, Damen-Po-Push-Up-Schlüpfer bis hin zu Handykabeln, Steppdecken, Nationaltrachten sowie Näh- und Schleifdienstleistungen alles bekommen kann. Letztere nehmen wir beide in Anspruch, lassen für 50 Som (50 Cent) ein Taschenmesser schleifen und anschließend zwei Nähte an meinem Rucksack reparieren. Der gute Mann checkt, nachdem er uns erklärt hat, dass seine Maschine wie wir aus Deutschland kommt, alle weiteren Nähte auf Stabilität und weigert sich am Ende gänzlich, Geld für seine Dienstleistung zu nehmen. Ein bisschen peinlich berührt, aber dennoch dankbar ziehen wir weiter und entdecken einen Händler, der frisch panierte und frittierte Fische verkauft und schlagen anschließend beim Salatstand zu, wo die Verkäuferin, die Hand in einer Plastiktüte, Sören kurzerhand einen Bissen von jedem Gericht in den Mund schiebt. Nachtisch holen wir bei einem der zahlreichen Trockenobsthändler, aber Achtung! Steinfrüchte kommen hier tatsächlich noch mit Kern, vielleicht einer der Gründe, warum man hier so viele Leute mit Goldzähnen sieht?

Die eigentliche, überdachte Markthalle ist gar nicht so groß, aber darum herum hat sich eine so bunte, vielfältige und chaotische Struktur entwickelt, dass wir, als wir zum zweiten Mal auf den Basar kommen, völlig irritiert sind: Wo war doch gleich der Stand mit den Steppdecken? Hm, warte, hier hinter dem Kochtopf- und Nudelholz-Stand links – äh, neee, doch nicht, warte, vielleicht hier rüber, beim Kwas-Stand (davon gibt es aber tatsächlich zu viele, um sich an ihnen zu orientieren)? Wir benötigen sicher eine halbe Stunde und laufen wohl ein halbes Dutzend Mal an den gleichen Ständen vorbei, bis wir den Stand vom Vortag wiederfinden und Sören ist schon kurz davor, mich und meinen zweifellos wenig ausgeprägten Orientierungssinn für verrückt zu erklären. Ich bin gespannt, ob wir heute noch wiederfinden, was wir uns gestern rausgesucht haben.

Europäer, die auf Russenkarren starren

Ursprünglich (also damals, als wir noch dachten, Corona hätte sich 2021 schon längst erledigt und alles wäre wieder normal), war unser Plan, ein Auto in Kirgistan zu kaufen, um von hier aus zurück nach Deutschland zu fahren. Im Zuge seiner Recherchen hatte Sören damals schon den Avtorynok „Riom Avto“ in Bischkek gefunden. Jetzt, einmal hier, sind wir neugierig und beschließen, mit dem Taxi hinzufahren. Mit dem Yandex (ehemals Uber) kostet die etwa 20-minütige Fahrt 300 Som, also drei Euro. Das Areal ist wirklich riesig, aber heute, Samstag am späten Nachmittag, schon relativ leer. Schnell finden wir unsere Ecke: Die Ladas. Eigentlich hatten wir noch gehofft, einen UAZ Buhanka zu finden, auf den Straßen von Bischkek hatten wir ja schon einige dieser rollenden „Kastenbrote“ gesehen, aber hier werden wir enttäuscht. Was vielleicht auch besser so ist, sonst würden wir womöglich noch in Versuchung kommen? Also schauen wir uns die alten Ladas an, die hier für 150.000 bis 300.000 Som gehandelt werden. Für die wenigen, anwesenden Kirgisen ist es sichtlich irritierend, dass die einzigen offensichtlichen Ausländer sich für gerade die Karren interessieren, die hier keiner mehr will. Ein Kirgise findet findet das offenbar so kurios, dass er ein Foto mit uns machen möchte. Nun ja, why not. Neben Daimlers, VWs und Audis in allen Phasen ihres Lebenszyklusses finden sich auch jede Menge japanische Autos, darunter etwa einige Mitsubishi Delica, die sich sicher ganz hervorragend als Expeditionsfahrzeug in diesem Teil der Welt eignen. Wer etwas mehr Ahnung von Autos hat, als wir, wird hier mit Sicherheit fündig.

Füße kühlen, Kwas trinken und Wachablösung auf dem Ala-Too-Platz

Bereits jetzt, Ende Mai, ist es in Bischkek knackig heiß, tagsüber liegen die Temperaturen eigentlich immer über 30 Grad. Da wir uns hauptsächlich zu Fuß durch die Stadt bewegen, sind wir in den Abendstunden oft reichlich geschafft. Und auch, als wir nach unserer Exkursion zum Automarkt den Ala-Too-Platz erreichen, sind wir platt. Zur Erfrischung gönnen wir uns erstmal einen eisgekühlten Kwas, mit dem wir uns an den Rand eines der Springbrunnen setzen. Wir entspannen, das wuchtige, nationale Geschichtsmuseum im Rücken, die Abendsonne von rechts, die Füße im kühlen Wasser und den Blick zwischen spielenden Kindern, Manas-Statue, Riesenflagge und den Berge im Süden umherschweifend. Punkt 19 Uhr werden dann endlich auch die armen Wachsoldaten abgelöst, die hier den ganzen Tag (puh, ja was tun sie eigentlich?) die kirgisische Flagge bewacht haben. Immerhin ein kleines Spektakel mit Stechschritt und Gewehrbalancieren.

Riesenrad und Zuckerwatte im Panfilov Park

Anschließend geht’s in den Vergnügungspark, denn ich will unbedingt Riesenrad fahren! Schon der Blick entlang der Häuserfluchten lässt erahnen, dass sich südlich der Stadt eine massive Bergkette erstreckt, das könnte von oben doch noch viel besser aussehen. Nach einer Zuckerwatte, die etwa doppelt so groß ist, wie mein Kopf, geht es an Bord. Und wir werden tatsächlich nicht enttäuscht. Berge, Bäume, Brutalismus – ich denke, so lässt sich die Aussicht von hier oben am besten beschreiben. Anschließend drehen wir noch eine Runde über den Rest des Panfilov-Vergnügungsparks mit Kettenkarussell, Tschuff-Tschuff-Bahn und Co., widerstehen einem Armdrücken-Contest mit einem Kirgisen und schlagen dafür an der Boxbirne voll zu. (Ich bin mir sicher, dass mein Ergebnis eigentlich 1.014 gewesen wäre (leider ist die Anzeige des Apparates jedoch nur dreistellig) und fühle mich um meinen Sieg betrogen.)

Das kreisrunde Arbeiterviertel

Beim Blick auf die Karte von Bischkek hat ein Ort direkt unsere Aufmerksamkeit erregt: Rabotschi Gorodok. Im Gegensatz zum strikten Schachbrettmuster im Zentrum der Stadt, ist dieses „Arbeiterviertel“ kreisrund angelegt. Allerdings muss ich gestehen, dass das wirklich nur auf der Karte beeindruckend ist. Hätte Sören nicht gesagt: „So, wir sind jetzt da“, wäre es mir vermutlich nicht aufgefallen, denn es handelt sich, wie der Name des Viertels schon vermuten lässt, um einen einfachen, aber schönen, ruhigen Wohnbezirk für Arbeiter, wo jeder sein kleines Häuschen mit kleinem Gärtchen hat. Weicht man von einer der beiden geteerten Hauptstraßen ab, wird es sofort buckelig, man fühlt sich eher wie auf dem Land – und das nur etwa 30 Gehminuten vom Zentrum der Hauptstadt. Das wohl bemerkenswerteste sind hier die ausgefallenen Regenrinnenkonstruktionen und gegebenenfalls noch der Weg zum gleich dahinterliegenden Hippodrom, das hier im Land der Reiter sicher einen Besuch wert ist.

Hintergründe

Insgesamt sind wir nun fünf Tage in Bischkek und haben viel beobachten sowie mit Reisenden und einigen Kirgisen sprechen können. Dass es in Kirgistan quasi keine Corona-Maßnahmen gibt, außer einer kaum durchgesetzten Maskenpflicht in Läden und öffentlichen Gebäuden, ist uns schnell aufgefallen. In diesem Zusammenhang erfahren wir, dass die Regierung nach Erhalt von Förderungen aus der EU im vergangenen Jahr wohl mal für zwei Monate strengere Maßnahmen verhängt habe, aber jetzt fehle wieder Geld für Schließungen etc. Im Zusammenspiel mit der im Land verbreiteten Korruption lassen sich diesbezüglich natürlich einige Vermutungen anstellen, aber was ändert das schon?

Aus Gesprächen mit und Erzählungen von den Leuten, die wir hier getroffen haben, hier einige Beispiele:

Die wohl relativ neuen Blitzer. Früher als noch die Polizei über die Einhaltung der Speed-Limits wachte, hätte man einfach 3 bis 4 Dollar an Schmiergeld bezahlt, statt der nun definitiv fälligen 20 Dollar. Obwohl unser Gesprächspartner sich insgesamt über Korruption beschwert, hören wir hier doch ein leichtes Bedauern in der Erzählung.

Ein anderes Beispiel zeigt die Schwierigkeiten der nicht kontinuierlichen Regierung. Keiner in der jeweils aktuellen Regierung will Verantwortung übernehmen, aus Angst davor, bei der nächsten Revolution im Gefängnis zu landen. Zum Beispiel wollte eine deutsche Institution Kirgistan Geld für den Ausbau der medizinischen Versorgung zur Verfügung stellen, Geld, das hier offenbar dringend benötigt würde. Als die Frist für die Unterzeichnung der Verträge verstrichen war, fragte die deutsche Institution nach den Dokumenten. Doch die Unterlagen, die von dem Verantwortlichen hätten unterschrieben werden sollen, lagen nach wie vor unbearbeitet auf dessen Schreibtisch. Als Grund gab er wohl an, dass alle seine Vorgänger die solche Verträge abgezeichnet hätten, jeweils beim nächsten Aufstand ins Gefängnis gegangen wären.

In einem anderen Gespräch fragen wir nach dem kirgisisch-tadschikischen Grenzkonflikt. Dieser bereits seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schwelende Konflikt lebte im Frühjahr 2021 erneut auf. Schuld daran sei laut unseres Gesprächspartners auch ein kirgisischer Politiker, der nach Tadschikistan gereist sei, um den Konflikt beizulegen. Er kehrte nach Bischkek zurück und erklärte: „Alles klar, das Problem ist gelöst.“ Er habe Tadschikistan eine bestimmte Region zugesprochen. In weiteren Gesprächen mit seinen Landsmännern klärte sich, welches Gebiet genau er (offenbar ohne Rücksprache) abgegeben hatte: Es handelt sich dabei um eine Region mit Wasserreservoir, was bedeutet, dass die Kirgisen in dieser Region keinen Zugang mehr zur Wasserversorgung haben. Lösung ist: Er will erneut nach Tadschikistan, um den Vorgang rückgängig zu machen. Das ist sicher nur ein winziges Teil eines deutlich größeren Puzzles an Informationen, könnte aber sicher ein Grund sein, warum es in diesem Land offenbar regelmäßig alle paar Jahre zu größeren Aufständen und Regierungsneubildungen kommt.

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