Wandern in Ala Artscha – das Bergidyll gleich neben Bishkek

24. Juni 2021 | Bishkek, Kirgistan | Lisa

Mit dem Ala Artscha Nationalpark haben die Bewohner Bischkeks ein wahres Juwel direkt vor ihrer Haustür. Gerade einmal 30 Minuten Fahrt liegen zwischen der heißen, etwas chaotischen Hauptstadt Kirgistans und der verlockenden, deutlich kühleren Bergkette. Und so verwandelt sich das waldige Gebiet vor dem eigentlichen Nationalparkeingang in den Sommermonaten zu einer Mischung aus Naherholungsgebiet und Freizeitpark für überhitzte Großstädter, die sich hier mit Decken, Sitzkissen, Teppichen, Grills und Kohle sowie Tonnen von Fleisch zwischen den Bäumen einrichten. Die Explorer beschließen, das Bergpanorama etwas genauer zu erkunden, wandern zum Fuß des Ala Artscha (Ала Арча) und übernachten zwischen fünftausendern in der Stojanka Ratzecka.

Say Hello to Miss Brooks!

Es ist Montagmorgen und das heißt für die Explorer: Auto holen. Ich stehe bereits zeitig auf, um meinen Beitrag über die ersten Eindrücke aus Bischkek zu setzen. Dann laufen wir zu Travelland, einer sehr professionellen und super modernen Agentur, die Fahrzeuge vermietet und Touren anbietet. Wir hatten im Vorfeld viel Kontakt mit dem Inhaber Vlad bezüglich der gesamten Organisation und können die Agentur nur empfehlen. Wir nehmen unsere Miss Brooks, einen Infinity QX4 (und nein, wir hatten eigentlich einen Nissan Pathfinder gebucht) in Empfang und staunen – was für ein Schiff! Da sollte das mit dem Übernachten auf jeden Fall klappen. Sören meistert die ersten paar hundert Meter bis zu unserem Hostel trotz schon jetzt irrer Fahrweise um uns herum hervorragend, wir laden alles ein und düsen zum Supermarkt und fahren tanken. Was für ein seltsames System hier: Man geht zunächst ins Kassenhäuschen und bezahlt die Menge an Sprit, die man gern tanken würde. Dann erst wird der Zapfhahn freigeschaltet – wir sind gelinde gesagt überfordert, denn wir wissen ja nicht mal, wie viel eigentlich in unseren Tank passt. Irgendwie verständige ich mich mit dem Kassenmann darauf, dass wir einfach voll tanken und dann zahlen. Aber auch später werden wir feststellen: so richtig gern macht das hier keiner.

Einrichten in den Bergen

Nach diesem ersten Miniabenteuer fahren wir raus aus der Stadt in Richtung der sanft geschwungen, saftig grünen Hügel, die wir bereits von Bishkek aus gesehen haben. Für gerade einmal 450 Com (4,50 €) dürfen wir mit dem Auto so lang bleiben, wie wir wollen. Überraschten sind wir von der schieren Menge von Menschen und Fahrzeugen hier oben. Das ganze fühlt sich mehr nach Festival als nach Nationalpark an. Überall sitzen Familien und Freunde auf mitgebrachten, bunten Decken und Teppichen, die Kinder tollen herum, weiter hinten tanzt eine Gruppe zu hämmernden Kirgis-Pop-Beats während die Vatis  Berge von  Fleisch grillen. Wir drehen eine Runde, beobachten Leute, überqueren einen Fluss über eine halb eingestürzte Brücke und richten, zurück am Auto, Miss Brooks so ein, dass wir gemütlich darin schlafen können. Das bedeutet: die  Sitzflächen der der Rückbank werden abgeschraubt, die Rückbank umgeklappt, Isomatten, Schlafsäcke und die Super-Baumwolldecke und Kissen vom Basar oben drauf – e voila, fertig ist das Bettchen, dank Glasdach sogar mit Sternenausguck. Abendbrot gibt’s über dem Lagerfeuer unten am Fluss – Omelette, dann machen wir uns an unsere erste Nacht in unserem neuen Camping-Mobil.

Tour 1: Zu Fuß zum Fuß des Ala Archa

Neben kurz vor fünf wachen wir auf und sehen den Sonnenaufgang über den Bergen, wunderschön!, aber wir sind zu faul, um ernsthaft aufzustehen und Fotos zu machen. Nach dem Frühstück brechen wir auf zu unserer ersten kirgisischen Wandertour, wir wollen dem Flusslauf durchs Tal folgen, um so an den Fuß des Berges zu gelangen, dem dieser Park seinen Namen verdankt. Vor uns liegen elf Kilometer und 1.000 Höhenmeter pro Strecke. Schon beim Frühstück haben wir wieder zahlreiche Marschrutki (Minibusse) gesehen, die zahlreiche Kirgisen abgesetzt haben. Jetzt laufen diverse Gruppen, schwer bepackt mit Holz, Grills, Kohle, Decken und Co. an uns vorbei, auf der Suche nach dem besten Platz für den Tag. Wow…. 

Wir folgen der zunächst noch geteerten Straße durch Nadelwald und kommen dann an ein riesiges Flussbett, wo zwei Ströme aus den  verschiedenen Taleinschnitten zusammentreffen, hier aufgrund der Breite nicht so tief und reißend sind, wie wir es später noch sehen werden. Es geht weiter durch Wald, im Vergleich zu unseren Wanderungen in der Türkei eine Wohltat für die Füße, vorbei an bunten Blumenwiesen in Lila, Gelb und Orange. Wir laufen auf der linken Flussseite, sehen jedoch, dass auch rechts des Stroms ein Pfad entlangführt – der sieht skandalöserweise auch immer besser aus. Wir müssen an steilen Geröllhängen entlang, überqueren schließlich eine rostige Metallkonstruktion über die vorbeirauschenden, brausenden Fluten. Jetzt bloß nicht abrutschen. Auf der anderen Seite angekommen, haben wir erneut das Gefühl, dass der schöne Weg drüben weitergegangen wäre. Sören ist so angenervt von dem ganzen Geröll, denn wir laufen jetzt oft durch die trockenliegenden Teile des Flussbettes oder der Nebenarme, dass er eine Überquerung in Erwägung zieht. Schließlich wissen wir auch nicht, ob es am Ende unseres Weges eine einfache Möglichkeit zur Überquerung folgt. Da  jedoch alles hier ganz schön tosend und wild aussieht und wir wenig Lust auf nasse Füße haben (ja ich weiß, wir Pussies), gehen wir weiter, bis wir einen kleinen Pass rechts des Ala Artscha hinaufsteigen und dort nicht nur in das nächste, kleine, idyllische Tal schauen, sondern auch dank jeder Menge Geröll die reißenden Fluten problemlos überqueren können. Und siehe da: diese Seite lässt sich tatsächlich wesentlich angenehmer laufen, fast so, als würde diese Piste hin und wieder auch von Geländefahrzeugen genutzt. Zwei Mal müssen wir Schneefelder überqueren unter denen bereits das Wasser durchrauscht (gut, dass ich auf dem Hinweg einen soliden Stock gefunden habe) und überqueren dann erneut und in gleicher Richtung die Metallkonstruktion. Auch hier hatten uns unsere Augen auf dem Hinweg nicht getäuscht: der Weg ist einfach viel entspannter,  sodass ich im Gehen mit der Miss-Brooks-Blumendeko starten kann. 

So erreichen wir nach circa 22 Kilometern den Parkplatz, entspannen eine Runde, bevor wir uns an die Essensvorbereitungen machen. Aber was ist das?! Alles Holz im Umkreis ist aufgesammelt (vermutlich von vielen, fleißigen Kinderhänden) und bei den einzelnen Sitzgruppen gebunkert. Zum Anzünden reicht es noch und später stibitzt Söri ein bisschen von einem verlassen daliegenden Grillplatz – „die fahren ja eh bald heim“, denken wir, kneten den Teig für Pfannenbrot und bereiten die Gretschkapfanne vor.

Rezept für die Ala-Artscha-Gretschka-Pfanne

  • 2 Handvoll Gretschka (Buchweizen) nach Anleitung kochen
  • 1 Zwiebel, 2 Knoblauchzehen und 1 Spitzpaprika kleinschneiden und in der Pfanne anrösten (am besten natürlich über Lagerfeuer)
  • Wer mag, kann etwas Salami mit reinschneiden, wir hatten Rindersalami, das wird schön aromatisch
  • Salzen, Pfeffern und wenn er gar ist, den Buchweizen (ggf. abgießen) kurz mit in die Pfanne schmeißen
  • Idealerweise ein Becherchen (Ala Artscha) Vodka dazu genießen

Tour 2: Rauf zu Ratzeks Berghütte

Unsere erste Nacht in Miss Brooks ist noch etwas gewöhnungsbedürftig, aber das wird schon. Zum Aufstehen beschenkt uns die eigenwillige Lady dann um kurz vor 8 mit einem zehnminütigen Alarmanlagen-Hupkonzert, das wir erst mit Telefonsupport aus Bishkek stoppen können. Merke: Abgeschlossenes Auto von verlassen geht, dann von außen öffnen nicht ohne entsprechenden Krach, wenn man nicht vorher die Zentralverriegelung an der Tür deaktiviert. Wir packen alles für eine Zwei-Tages-Tour zusammen, da wir wissen, dass wir oben auf der Stojanka Ratzeka (Стоянка рацека) Hütte schlafen können, sofern sie aufhat.

Erneut durchqueren wir zunächst den „touristischen“ Teil des Ala-Artscha-Parks mit seinen Grillplätzen, doch schon kurz nach dem Hotel und Überqueren des Ameisenüberwegs geht es für uns nach links und bergauf. Vor uns liegen insgesamt 1.400 Meter Höhenunterschied auf fünf Kilometern Strecke, aber wir wollen das ja so! Schnell lichtet sich der Nadelwald und geht am „Broken Heart Felsen“ (wir rätseln bis heute, warum der so heißt und warum es tatsächlich Paare gibt, die dort Hochzeitsfotos machen lassen) über in ein saftig grünes Hochplateau und bereits jetzt großartigen Blicken auf die umliegenden Gipfel sowie nach unten in die weiten Täler. Die schnell dahinziehenden Wolken machen es Hobby-Meteorologe schwer, irgendwelche Voraussagen zu treffen, da sie ihre Richtung ständig zu wechseln scheinen. Mal steht der Weltuntergang im Osten, dann wieder scheint es, als würde aus Nordwest die schwärzeste aller schwarzen Gewitterwolken kommen. Aber solange sich noch alles irgendwie bewegt und nicht fest an den Bergen klebt, ist es ja auch ganz gut. Außerdem entsteht jetzt ein Effekt, den ich gerade bei solch weiten Landschaften besonders liebe, nämlich, dass die Wolken ganz klar am Boden sichtbare Schatten werfen. Keine Ahnung warum, aber ich mag das. Derart von Mutter Natur unterhalten erreichen wir nach einem längeren Stück ohne Steigung den Wasserfall, der etwa die Hälfte der Strecke markiert und an dem wir auch eine Familie aus Bishkek und ein unglaublich neugieriges Eichhörnchen-Mädchen treffen. Während wir uns mit Pfannenbroten, Käse, Nüssen und Trockenobst für den steilen Anstieg wappnen, ziehen die Eltern mit den zwei kleinen Jungs schon mal weiter. Perfekt – mehr Ruhe, um das süße Oachkoatzel für ein kleines Fotoshootings anzulocken.

Gute Gesellschaft findet man sogar am Ende der Welt

Schließlich machen auch wir uns an die restlichen zweieinhalb Kilometer, die ausschließlich über Geröll führen. Wir erhaschen weitere beeindruckende Blicke ins Tal, bekommen mit jedem Höhenmeter aber auch den Eindruck, dass die Schwarz-Wetter-Front sich genau auf uns zuschiebt. Also noch mal alles geben, um möglichst bald die Hütte zu erreichen, was uns trotz meiner aufkommenden Knieschmerzen, kleiner Kletterpartien und fiesen, nassen oder sandig-rutschigen Felsen zum Glück gelingt, sodass wir gegen 13.30 Uhr an der Ratzeka gerade rechtzeitig ankommen, um uns vor dem jetzt beginnenden Schneeregen und Hagel ins Trockene zu bringen. Tatsächlich können wir auch hier übernachten, denn an einen Rückweg ist beim jetzigen Zustand meines Knies nicht zu denken. Außerdem ist es irgendwie schön hier. In der Bar schenkt uns Jura heißen Tee ein und bald darauf kommt auch unsere Familie, die wir vorhin überholt hatten, leider völlig durchnässt an. Auch sie wollen sich jetzt erstmal aufwärmen und so kommen wir mit Yildiz und ihrem Mann sowie den zwei Kids ins Gespräch – immerhin „quatschen“ wir zwei Stunden auf Russisch, Englisch und mit Händen und Füßen.

Exkurs Volkstraditionen: Wer holt die kopflose Ziege?

Von den beiden erfahren wir auch mehr über eine der Sporttraditionen Kirgistans, Alaman Ulak. Es ist eine Art Nationalsport und wird von Herbst bis Frühling in vielen Dörfern gespielt. Ziel ist es, eine kopflose Ziege auf dem Spielfeld als erster mit dem Pferd zu erreichen, aufzuladen und an einem bestimmten Platz abzulegen, während alle anderen Spieler natürlich versuchen, ebenjenen Kadaver abzuluchsen. Eine Runde endet, sobald die Ziege beim Preisrichter abgelegt wurde. Wie bei jedem anderen intensiv betriebenen Sport vergessen auch hier Freunde ihre Freundschaften, denn es geht um alles. Die Preise werden dabei mit jeder Runde wertvoller und reichen vom Schaf bis zum Auto, schließlich steigt mit der steigenden Erschöpfung auch die Verletzungsgefahr für Pferd und Reiter. Und selbstverständlich geht es dabei alles andere als gediegen vor, sodass Prellungen, Brüche und verdrehte Extremitäten auf der Tagesordnung stehen und seltener auch Spieler im Wettkampf sterben. Neben Alaman Ulak gibt es auch noch Kök Bürü, das als Mannschaftssport gespielt wird und bei dem die Ziege in eine Art „Tor“ befördert werden muss. Übrigens wird die Ziege am Ende verwertet, der Gewinner des Hauptpreises erhält auch sie und es ist eine besondere Ehre von ihm zu einem Stück gebratener Ziege eingeladen zu werden.

Nicht mein Tag

Was für die Kirgisen ein Nationalsport, taugt für uns ja eher zum Schauern, und so können wir nur hoffen, dass die für europäischen Geschmack ziemlich markabre Tradition uns nicht bis ins Reich der Träume verfolgt. Nachdem unsere Familie sich wieder an den Abstieg macht, richten wir uns im Gemeinschaftsschlafraum, den wir für uns allein haben, erstmal ein und krallen alle Decken, derer wir habhaft werden.

Am nächsten Morgen wache ich bei Zeiten – und zum Glück ohne Träume von toten Ziegen – auf und schaue zu, wie sich die aufgehende Sonne über die Gipfel schiebt und der Wind den Schnee auf den weißen Zinnen glitzernd verwirbelt. Gegen zehn sind wir startklar für den Abstieg bei strahlend blauem Himmel im Verlauf dessen ich doch tatsächlich gleich zweimal fies ein Stück des Bergs runterkullere. Einmal, beim Wegrutschen auf einem nassen Felsen und einmal, am Wasserfall auf sandigem Untergrund, zum Glück und leider gebremst durch einiges, kratziges Unterholz. Heute ist definitiv nicht mein Tag. Dafür kann ich sagen: Kirgistannarben: Check, ein schwacher Trost. Den Rest des Weges kommen uns zahlreiche auffallend aufgebrezelte Kirgisinnen hechelnd entgegen und fragen, ob es noch weit sei – bis wohin, ist immer die große Frage… Heute scheint auf jeden Fall Exkursionstag zu sein und wir fühlen uns mit unseren Wanderklamotten und -Schuhen ein bisschen overdressed vor, aber hey, wer weiß, wie oft ich ohne die noch hingefallen wäre…?

Praktische Infos

Tour 1: Zum Fuß des Ala Artscha

Dauer: 1 Tag

Länge: 22 Kilometer

Höhenmeter: 815 Meter 🔼, 815 Meter 🔽

Übernachtungsmöglichkeit: sein Zelt kann man überall im Nationalpark aufstellen, wenn ich mich richtig erinnere, ist lediglich das Feuermachen in dem Bereich nach dem Hotel untersagt. 

Tour 2: Rauf zu Ratzeks Berghütte

Dauer: 1 oder 2 Tage

Länge: 10 Kilometer

Höhenmeter: 1.400 Meter 🔼, 1.400 Meter 🔽

Übernachtungsmöglichkeit: auf Ratzeks Hütte im Gemeinschaftsschlafraum (es gibt Matratzen) für 500 Com (ca. 5 Euro) pro Person. Schlafsäcke können für 400 Com gemietet werden. Tee, Kaffee, alkoholische Getränke gibt es dort ebenso wie die Möglichkeit, vor Ort zu essen, hier wissen wir aber nicht, ob das vorher angemeldet werden muss. Im Zweifel am besten Ak-Sai Travel kontaktieren, die Reiseagentur betreibt die Hütte.

Anreise: ab Bishkek in 45 Minuten mit dem Mietwagen, der Marshrutka (öffentlicher Kleinbus) oder dem Yandex (Яндекс, ehemals Uber)

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