
Istanbul – zwölf Jahre, zwei Eindrücke
10. April 2021 | Izmir, Türkei | Sören
Zwölf Jahre sind eine lange Zeit und viel hat sich seitdem verändert. Klar, warum sollte auch eine Metropole wie Istanbul gleich bleiben. Schon gar nicht, wenn in den Jahren zwischen 2009 und 2021 über drei Millionen neue Einwohner hinzugekommen sind. Istanbul verändert sich ständig.
Dass sich aber das heutige Bild so stark von meinen damaligen Eindrücken unterscheidet, was eben nicht nur an Corona liegt, hat mich doch überrascht. Das Potpourri von Ausgelassenheit, Freude, Freiheit, Unbekümmertheit ist verändert und leider gedämpft. Ich vermisse die Bars, Cafés, das Nachtleben und das Tohuwabohu von Gesprächen, Lachen, Musik und Klirren von Gläsern.
Trotzdem, erleben kann man viel, exotisch und kulturell berauschend ist es allemal. Man sollte Istanbul einen Besuch gönnen – und Izmir auch.

September, 2009
Mein erstes Mal Türkei. Die Lux Europa, eine internationale Konferenz zum Thema Licht und Beleuchtung, lädt in die Metropole am Bosporus ein. Ich lande am neuen istanbuler Flughafen, der damals noch nicht ganz fertig war, aber schon durch seine Dimension besticht. Los geht es mit einem Sammeltaxi in Richtung Unterkunft und ich nehme die ersten Eindrücke vom Treiben einer 12-Millionen-Stadt auf. Endlose Autoschlangen wuseln sich durch alle Straßen, fast eine Stunde brauchen wir durch das Häusermeer, um zum Hotel zu kommen, überall wird gedrängelt und gehupt, an den Straßen nahe des Zentrums reiht sich ein kleiner Laden an den anderen und die Leuchtreklamen blinken in wildem Stakkato.
Neben der Teilnahme an der Lux Europa hatte ich noch genug Zeit, die Stadt mit ihrer Kultur, dem Leben, den Menschen und dem Nightlife zu erkunden. Bereits am ersten Tag, als ich dem Taksim-Platz und den umgebenden Straßen einen Besuch abstattete, konnte ich eine wahnsinnig, junge und freie Lebendigkeit fühlen. Überall gab es kleine Bars, Cafés, Restaurants. Die Straßen waren voller Menschen, die bei herbstlichem Sonnenschein oder später in der Nacht an jenen Plätzen saßen, miteinander redeten und lachten. Die Gläser gefüllt mit Kaffee, Tee, Bier oder Raki, dem türkischen Nationalgetränk, welches sich erstaunlicherweise durch Zugabe von Wasser von scheinbarem Wasser in eine milchige Delikatesse verwandelt, wurden geleert. Bis in die Morgenstunden ging der freudige Trubel – bei mir auf Dachterrassen mit Balkan-Pop und dem späteren Sonnenaufgang.
Ähnliche Lebhaftigkeit erlebte ich, als ich am Ufer des Bosporus entlangging und mich dort in einer der Nargile-Bars niederließ. Bei dem Ausblick auf den sich teilenden Strom und die andere Seite, auf der schon Asien losgeht, kann man sich schonmal eine Wasserpfeife mit Milch als Filterungsflüssigkeit gönnen. Auch hier war eine gelöste, freudige Stimmung. An den Tischen und am Boden saß man in Gruppen oder allein, unterhielt sich und tauschte sicherlich allerhand Neuigkeiten aus (ich kann ja kein Türkisch). Auch hier merkte man schnell die Lebensfreude der Istanbuler.
Gleiches nahm ich damals überall in der Stadt auf. Offene und hilfsbereite Menschen, keine Vorbehalte gegenüber mir, der augenscheinlich nicht aus der Türkei kommt, aber am Leben teilhaben möchte.
Auf dem Rückflug konnte ich zu mir sagen: „Istanbul ist eine so junge, dynamische Stadt, mit soviel Kultur, Potenzial, Abwechslung – eben ein Schmelzpott von Kontinenten und Kulturen. Hier möchte ich unbedingt nochmal hin.“
April, 2021
Diesmal komme ich am späten Abend an dem nun riesigen und fertig gebauten Istanbuler Flughafen an und es geht mit dem HavaIst Bus 14 in die Metropole gen Taksim. Wir kämpfen uns durch den abendlichen Verkehr, denn 21:00 Uhr schließen die Geschäfte und eine Ausgangssperre für die Einheimischen ist aufgrund von COVID-19 gültig. Eigentlich ist aber das Verkehrsaufkommen und die Wuseligkeit, das Drängeln, Hineinschieben und Hupen gleich, wie in meiner Erinnerung zwölf Jahre zuvor. An den Busfensterscheiben rauschen die bunten LED-Reklameschilder vorbei und in Besiktas ist weiterhin ein Lädchen neben dem anderen. Auf dem Taksimplatz angekommen noch schnell orientiert und dann ging es zu Fuß zur Unterkunft in den nördlichen Teil um den Taksimplatz, einem Teil der zwar von Unterkünften wimmelt, aber eher für Low-Budget-Tourismus hergerichtet scheint. Nice, ich mag es ja etwas morbide und „mittendrin“.
Mehr oder weniger ausgeruht, denn ich hatte die Muezine vergessen und in unserer Hood war dieser besonders laut und inbrünstig, rief dieser schon gegen halb sechs zum Gebet. Ein paar Stunden später ging es am Morgen raus in die exotische Stadt, mit eben jenen Moscheen und Sprechgesängen, die man fünf mal am Tag hören kann. Lisa war an meiner Seite und ich hatte schon wahrlich viel geschwärmt von der nun 15-Millionen-Stadt, voller Leben, Lebensfreude, Hilfsbereitschaft und angenehmer Andersartigkeit. Viele dieser Attribute habe ich auch in den nächsten Tagen gefunden, aber als wir auf dem Taksimplatz standen, die ersten Straßen links und rechts erkundeten, nach Karaköy hinabstiegen, irgendwas war anders, machte mich fast etwas wehmütig. Wenn ich jetzt, beim Schreiben dieses Beitrags, darüber nachdenke, möchte ich dies mit dem Fehlen des Eindrucks „angenehmer Geselligkeit und Freiheit“ umschreiben.
Was ist also anders als vor zwölf Jahren? Die Straßen sind voller Menschen, die genauso geschäftig umherlaufen und ihre Waren anpreisen, ihren Tagesrhythmus trotz Corona leben. Die meisten tragen sogar richtig ihre Masken und an der Fußgängerzone werden kostenlos frische Masken verteilt. Wenn man in die Straßen blickt, würde man gar nicht auf die Idee kommen, dass wir in Zeiten einer Pandemie leben, bis eben auf die Masken und die überall aufgestellten Desinfektionsstationen sowie ein paar Schlangen vor größeren Geschäften, die sich aufgrund der Prüfung des HES-Codes bilden.
Ok, was hat sich denn nun geändert? So richtig klar wurde mir das erst, als ich mit Lisa über meine Eindrücke an der wunderschönen Kaipromenade, entlang der rechten Seite von Taksim über die Brücke Richtung Sultanahmet gehend, sprach. Anders ist, dass es an den neuralgischen Punkten nun schwer bewaffnete Polizei mit Panzerwagen und Absperrgittern gibt. Die gesamte Polizeipräsenz ist nicht zu übersehen. Sicher gefühlt habe ich mich aber in den von mir besuchten Teilen von Istanbul damals wie heute. Verändert hat sich auch der Status und damit das Interieur der Hagia Sophia, die ja nun Moschee statt Museum ist. Die kleidet nun ein grüner Teppich im Inneren aus und das Original der Jungfrau Maria, welches bestimmt schon 1.500 Jahre auf die Betenden blickte, ist nun mit Tüchern vor den Blicken der Besucher und Betenden verborgen. Ebenfalls neu ist die Uferpromenade mit den Lokalen und Nargile-Bars entlang der Kemeralti Cd. Diese wurde und wird zunehmend bebaut und die Plätze für ein „Meet and Greet“ mit der Aussicht auf die asiatische Seite sind verschwunden. Auffällig anders ist jedenfalls, dass die Bars und Restaurants und damit die von mir gesuchte Geselligkeit, rund um Taksim verschwunden sind. Nicht, dass keine Lokale mehr da sind. Es sind nur mehr Kaffee- und Teelokale, mehr Handyläden, Klamottengeschäfte und Krims-Kramsläden geworden. Eine Bar, ein Restaurant oder einen Laden, in dem Istanbuler und Besucher zusammensitzen und ein Bier oder eben Raki trinken können, sucht man lange. Das ganze Bild und damit auch ein Stück weit die gesellige Kultur, die Gelöstheit und Leichtigkeit haben sich verändert. Ist das schlimm? Das muss sicherlich jeder selbst für sich beurteilen. Ich finde es eben einfach schade, dass dieses Gefühl nun nicht mehr so da ist. Rückblickend war es eben einzigartig, begeisternd, inspirierend und toll. Eine gute Nachricht habe ich jedoch noch. In Besiktas, rund um den Kartal heykehi kann man einen tollen Eindruck gewinnen, wie es mal war und vielleicht nachvollziehen, was ich meine.
Die Suche nach dem Grund
„Hey, es ist Corona-Zeit. Klar haben die ganzen Bars nicht offen. Schließlich soll man Abstand halten und keine Tanzparties feiern.“ – Kann man sagen. Damit wundert es mich aber, dass eben die ganzen Lokalitäten und Spots weggefallen sind und nicht einfach geschlossen oder in Tee- und Kaffeehäuser umgewandelt wurden. Auch wird kein Alkohol in Supermärkten verkauft, verständlich, und die rar gesäten Spätis findet man anhand der Dichte von schwarzen Plastiktüten die, wenn man in der Nähe ist, vermehrt zu sehen sind. Trinken ist auf öffentlichen Plätzen verboten und ebensolche Getränke müssen blickgeschützt transportiert werden.
Kurzer Exkurs zum Thema: Leider findet man solche Plastiktüten sehr oft, denn die Türkei, soweit der weiteren Reise vorausgenommen, scheint ein echtes Müllproblem zu haben. Überall findet man Müll, Plastiktüten in allen Farben, Tücher, Schaumstoff, Dosen, Gläser und all der Dinge mehr, die im Leben überflüssig geworden sind. Soviel kann ein Tourist gar nicht aufsammeln und in einen Mülleimer werfen, erst recht nicht, wenn man zugleich sieht, wie achtlos Flaschen und Verschlüsse zehn Meter entfernt von den verfügbaren Mülleimern ins Wasser oder auf den Boden geworfen werden. Neben diesem fehlenden Bewusstsein tragen der Wind und die Armut zur Verschmutzung, jedenfalls in den Metropolen, bei. Während die Verbraucher die Müllsäcke herausstellen, ziehen und schieben allerhand Menschen riesige Mülleinsammelwagen durch die Gassen, reißen die Mülltüten auf und trennen den Müll nach Pappe, Flaschen, Dosen. Der Rest allerdings bleibt den Windböen ausgeliefert und verteilt sich in alle Ecken.
Zurück zum veränderten Istanbul: Verwundert hat mich das Ganze schon und deshalb habe ich mal das schlaue World Wide Web befragt, was denn hier so ging. In Artikeln der Zeit „Der Bosporus wird trocken gelegt“, der Welt und einem der FAZ kann man ein paar Antworten finden, die vielleicht ebenso als Erklärung dienen können.
Ich glaube, dass mehre Faktoren dazu führten, dass sich die Gegend um den Taksim-Platz verändert hat und eben nicht mehr meinen Erinnerungen und Erwartungen entspricht. Zum einen scheinen die immensen Preis- und Steuersteigerungen einen enormen Verdrängungseffekt ausgelöst zu haben und zum Anderen das Verbot des Verkaufs von Alkohol in 100 Metern Umkreis von Moscheen und Schulen (bei der Eröffnung einer Lokalität, oder dem Eigentümerwechsel – auch Umschreibung innerhalb der Familie). Wenn man sich die Dichte an Moscheen in Istanbul anschaut, ergibt sich sicherlich ein fast lückenloser Teppich.
Einen kleinen Lichtblick gibt es aber, die Regelungen werden wohl in den einzelnen Wahlbezirken unterschiedlich ausgelegt, je nachdem, ob die AKP und die CHP die Mehrheit haben. Somit entwickeln sich liberalere Bezirke wohl gerade eher zu den Hotspots der Freiheit in der Entscheidung, ob oder ob nicht ein Raki in geselliger Runde genossen werden kann. Ähnliches bestätigte mir ein junger Istanbuler, dass die Entscheidungen und Maßnahmen zur Restriktion des Konsums von Alkohol und damit verbundene Geselligkeit, politisch motiviert sind.
Watch Out! Wer suchet der findet.
Nach fünf Tagen haben wir doch ein Überbleibsel meines damaligen Eindrucks gefunden, eine Seitenstraße neben der Haupteinkaufsstraße vom Taksim Platz zum Galata Tower. In dieser Marschrichtung, rechts nach dem LC Waikiki Laden abbiegend findet man Nevizade. Oder man fragt ein paar Istanbuler, denn die Einheimischen kennen ihre Plätze.